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Ad-hoc-Arbeitsgruppe Faktizität der Welt

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FAKE UND FAKT IM BILD

Online-Gesprächsreihe über Macht und Ohnmacht der Bilder

Wenn Falschinformationen im Umlauf sind, spielen oft auch Bilder eine wesentliche Rolle. In Sekundenschnelle ins Internet gestellte Bilder gelten in den „Social Media“ vielfach als beste Beglaubigung von Ereignissen. Doch ihre Glaubhaftigkeit gerät durch die Möglichkeiten der Bildmanipulation in Zweifel. Auch die gezielte Desinformation durch Bilder, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in neue Kontexte gestellt werden, stellt die Glaubwürdigkeit vor allem von Nachrichtenmedien in Frage.

Bildmedien haben die Macht, Wirklichkeit glaubhaft zu dokumentieren und dabei zugleich Kontexte und Narrative zu schaffen.  Bilder können sogar zu regelrechten Waffen im Kampf um die Deutungshoheit werden und „Bilderkriege“ entfesseln.

In der Online-Gesprächsreihe möchten wir erörtern, mit welchen „Fakes“ und Bildmanipulationen sich unsere Gesellschaft konfrontiert sieht. Welche Strategien der Beglaubigung prägten die visuelle Berichterstattung, und welche neuen Verfahren entwickeln sich gerade? Wie ist es möglich, ein verantwortbares Bild der Wirklichkeit zu zeichnen, auch angesichts der Globalisierung und Digitalisierung? Wie können schließlich in ganz grundlegender Hinsicht Bild-Akte in Bild-Fakten einmünden, sodass Bilder ihre Kraft zur Beglaubigung von Wirklichkeit bewahren?

 


Einführung

Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt) und PD Dr. Manuel Trummer (Uni Regensburg)


Themenblock 1

Das Bild in den Medien: Bildmanipulationen und Visualisierungen im Journalismus

Wie Redaktionen die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung nutzen (mit Klaus Meier)

Prof. Dr. Christoph Neuberger (FU Berlin) im Gespräch mit Prof. Dr. Klaus Meier (KU Eichstätt-Ingolstadt) (Juli 2020)

Die Erfindung des Buchdrucks ermöglichte nicht nur die massenhafte Verbreitung von Texten, sondern auch von Bildern. Im 20. Jahrhundert markierte die Einführung des Fernsehens einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Bildmedien.

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Die Übertragung von Bewegtbildern in Echtzeit rund um den Globus übt eine bis heute ungebrochene Faszination und Wirkmacht aus und spielt auch im Internet eine zentrale Rolle. Mit der Digitalisierung stehen wir nun vor einer dritten Zäsur, denn mit der neuen Technologie haben sich nicht nur neue Wege der Produktion und Verbreitung, sondern auch neue Möglichkeiten der Bearbeitung und Manipulation von Bildmaterial eröffnet. Zwar gab es auch früher schon Bildfälschungen und -manipulationen, aber die neuen Technologien haben diese enorm erleichtert. In ethischer Hinsicht sind jedoch weniger die Techniken als solche problematisch, sondern vielmehr die Motivation und Zielsetzung, mit der diese Techniken angewendet werden. Auch jenseits von aufwändigen ‚Deep Fakes‘ können bereits leichte Nachbearbeitungen, etwa bei der Belichtung oder beim Schnitt, den Eindruck bei den Zuschauer*innen verfälschen. Im Gespräch werden Beispiele erörtert, bei denen unterschiedliche Bildperspektiven die Erzählung einer Geschichte stützen oder widerlegen. Klaus Meier betont jedoch auch die Bedeutung der verfälschenden Kontextuierung von Bildern und der dadurch nahegelegten Interpretation, die ohne technische Manipulation erreicht werden kann. Wie soll der professionelle Journalismus mit den Herausforderungen umgehen, die die digitale Bildbearbeitung mit sich bringt? Wie können Bildmanipulationen entdeckt werden? Christoph Neuberger und Klaus Meier sprechen über Tools für den visuellen Faktencheck sowie über die Bedeutung eines (selbst-)kritischen Bewusstseins von Journalist*innen, die auch im Umgang mit Bildmaterial die Grundsätze einer unabhängigen und objektiven Berichterstattung beachten sollen.


Bildmanipulationen im Journalismus und in den sozialen Medien (mit Stefan Primbs)

Prof. Dr. Klaus Meier (KU Eichstätt-Ingolstadt) im Gespräch mit Stefan Primbs (Bayerischer Rundfunk) (Juni 2020)

Durch die Entwicklung des Internets und die wachsende Bedeutung sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter und YouTube hat der professionelle Journalismus zwar seine klassische ‚Gatekeeper‘-Rolle eingebüßt. Die zunehmende Verbreitung von Fake News macht allerdings auch deutlich, dass die Überprüfung von Informationen, die Redaktionen von Online-, Print- und Rundfunkmedien täglich leisten, mehr denn je wichtig ist.

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BR-Journalist Stefan Primbs erläutert in diesem Gespräch zunächst verschiedene Typen von Fake News, mit denen Mediennutzer*innen und Journalist*innen konfrontiert werden. Häufig tauchen alte Bilder von früheren Ereignissen in neuen, aktuellen Kontexten auf, etwa bei Terroranschlägen oder Katastrophen. In den sozialen Medien verbreiten sich diese Fotos oder Videos weit und in rasender Geschwindigkeit, denn die Nachfrage nach schockierenden Bildern ist groß. Stefan Primbs vergleicht den journalistischen Faktencheck mit der wissenschaftlichen Methode der Quellenkritik, wie sie etwa in der Geschichtswissenschaft praktiziert wird. Bei der redaktionellen Überprüfung von Informationen stellen Expert*innen eine wichtige Hilfe zur Validierung von Quellen und Informationen dar. Eine entscheidende Frage lautet dabei: Welche Motive treiben die Absender von Fake News? Im Gespräch erörtern Stefan Primbs und Klaus Meier die Chancen und Risiken von Faktenchecks. Fake News polarisieren die öffentliche Meinungsbildung. Sie zielen weniger auf die Änderung von Meinungen als vielmehr auf ihre Bestätigung und Verfestigung ab. Aus diesem Grund ist die Widerlegung von Fake News in den eigentlichen Zielgruppen oft wirkungslos. Dennoch sind Faktenchecks wichtig für diejenigen Mediennutzer*innen, die korrekt informiert sein wollen. In der redaktionellen Arbeit sind Sorgfalt und Transparenz das A und O der Qualitätssicherung. Aber darüber hinaus, so das Fazit von Stefan Primbs, müssen Journalist*innen ihre Arbeit noch besser erklären und den Mediennutzer*innen zeigen, wie sie bei ihrer Recherche vorgegangen und zu ihren Aussagen gekommen sind.


Visualisierungen von Daten im Journalismus (mit Michael Seadle)

Prof. Dr. Klaus Meier (KU Eichstätt-Ingolstadt) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Seadle (Humboldt-Elsevier Data & Text Centre, Berlin) (Juli 2020)

Neben Fotos und Videos spielen Grafiken eine wichtige Rolle im Journalismus. Sie kommen häufig zum Einsatz, wenn Statistiken und Umfragen oder auch Prozesse und Organisationssysteme präsentiert werden.

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Darüber hinaus werden Grafiken und andere visuelle Formen in investigativen Reportagen oder Recherche-Projekten genutzt, um den Nutzer*innen den interaktiven Umgang mit umfangreichen und komplexen Datensätzen zu ermöglichen. Angesichts der wachsenden Bedeutung von Daten und damit auch ihrer Visualisierung in der journalistischen Berichterstattung ist ein Blick in die Wissenschaft sinnvoll. Michael Seadle erläutert an Beispielen, wie im Wissenschaftssystem mit Bildfälschungen und irreführenden Grafiken umgegangen wird. Ein grundlegendes Problem liegt nach seiner Ansicht in mangelhaften Mathematik- und Statistikkenntnissen, und zwar sowohl bei Wissenschaftler*innen als auch bei Journalist*innen und Rezipient*innen. Denn solche Kenntnisse sind die Voraussetzung dafür, dass man richtig entscheidet, welche Information im Zuge der vereinfachenden Visualisierung weggelassen werden kann oder dargestellt werden muss. Während der Corona-Pandemie sind Darstellungen der Infektionszahlen mittels Kurven und Landkarten weit verbreitet. So einprägsam und anschaulich die Grafiken auch sind, bergen sie doch auch das Risiko einer fälschlichen Simplifizierung des komplexen Infektionsgeschehens und setzen oftmals ein Verständnis logarithmischer Skalen voraus, das jedoch viele Mediennutzer*innen nicht haben. Das Gespräch führt auch zum Thema ‚open data‘: Nur wenn die Daten frei zugänglich sind, können grafische Darstellungen selbstständig nachvollzogen und überprüft werden.


Themenblock 2

Die Zeugenschaft von Bildern im digitalen Wandel (Vertiefungen)

Terrorbilder im Wandel der Medien (mit Charlotte Klonk)

PD Dr. Manuel Trummer (Uni Regensburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Charlotte Klonk (HU Berlin)

Vom deutschen Historiker Herfried Münkler stammt die These, »der Terrorismus [stelle] eine Form der Kriegführung dar, in welcher der Kampf mit Waffen als Antriebsrad für den eigentlichen Kampf mit Bildern fungiert«. Eben diese Bedeutung von Bildern als Instrumente von Überwältigungsstrategien in gesellschaftlichen Konflikten steht im Mittelpunkt des geplanten Gesprächs.

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Charlotte Klonk, Professorin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität in Berlin vertritt darin die pointierte These von Bildern als Waffen. Eine kurze historische Einleitung, ausgehend von Jacques-Louis Davids „Der Tod des Marat“ (1793) als „erstem Terrorbild“, illustriert, welche Dynamiken von Bild und Realität sich im Nachgang zu Konflikten, Kriegen und Anschlägen entwickeln. Ein maßgeblicher Faktor in diesen Prozessen bildet dabei gerade heute das Framing dieser Bilder zwischen Fakt und Fake – zu dem heute entscheidend auch die eigene Medienerfahrung des Publikums beiträgt, was sich in divergierenden moralischen Einschätzungen und Folgekonflikten niederschlägt, die im digitalen Zeitalter um Bilder entstehen. Gerade vor dem Hintergrund dieser digitalen Ausdifferenzierungsprozesse vertritt Charlotte Klonk die Auffassung, dass die visuellen Kulturen der Gegenwart nicht mehr durch ikonische, singuläre Terrorbilder mit hohem Schockwert geprägt sind, sondern durch den seriellen Charakter der aktuellen Bildproduktion. Es ist die schiere Masse und das Potential unbegrenzter Reproduktion und Variation, die überwältigend und transformativ wirken. Inwieweit formiert vor diesem Hintergrund die millionenfache Verbreitung von Fakebildern eigene „Realitäten“? Oder führt die Repetition und Serialität von „Terrorbildern“ zu Abstumpfung und neuen kulturellen Stereotypen seitens des Publikums? Fragen nach der Bildethik, der konkreten Verantwortung der Gesellschaft und des Einzelnen in Hinblick auf den Wandel von Bildern als Medium in gesellschaftlichen Konflikten bilden abschließend den Ausblick des Gesprächs.


Alle Bilder lügen? Zum Problem der Wahrhaftigkeit im Bild (mit Jens Jäger)

PD Dr. Manuel Trummer (Uni Regensburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Jens Jäger (Uni Köln)

Im Kontext der aktuellsten bildtheoretischen Diskurse der Schule der Visual History fokussiert das Gespräch das Verhältnis von Bildern, Medialität und historischen Realitäten auf einer einführenden, grundlegenden Ebene.

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Ausgehend vom Beispiel einer historischen Fotografie entwickelt Jens Jäger, Professor am Historischen Institut für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Köln, seine Thesen zu öffentlichen Bildern in Bildpolitiken und Prozessen des Agenda-Setting. Aktuelle Beispiele führen daran anknüpfend die Analyse von visuellen Strategien in politischen Konflikten in der Gegenwart fort und diskutieren in diesem Kontext auch kritisch Fragen von Authentizität, Glaubwürdigkeit und Dokumentwert, die sich aus neuen visuellen Kulturen und digitalen Blickregimen ergeben. Dabei wird deutlich, dass Fragen von Fakt und Fake keineswegs allein ein Phänomen des postfaktischen 21. Jahrhunderts bilden, sondern von Beginn an in der Entwicklung der Fotografie und anderer visueller Medien angelegt war. Aus dieser Grundlage richtet sich der Blick schließlich auf die Praxis und die Herausforderungen für Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Wie kann die Methodologie der historischen und gegenwartsorientierten Bildforschung mit den rasanten Entwicklungen der visuellen Kulturen Schritt halten?


Bildpraktiken der digitalen Alltagskultur. Ethnographische und gesellschaftspolitische Herausforderungen (mit Christoph Bareither)

PD Dr. Manuel Trummer (Uni Regensburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Christoph Bareither (HU Berlin)

Den Ausgangspunkt dieses Gesprächs über neue Bildpraktiken in den digitalisierten Alltagskulturen des 21. Jahrhunderts bildet das provokante Projekt „YOLOcaust“ des deutsch-israelischen Künstlers Shahak Shapira. Darin stellte Shapira 2017 zwölf Selfies online, geknipst von TouristInnen auf dem Gelände des Denkmals der ermordeten Juden Europas in Berlin. Hinter die digitalen Schnappschüsse lachender, posierender und feixender junger Menschen montierte er aber reale Fotografien des Holocaust. Das Ziel: eine Diskussion über Formen der Erinnerungskultur anzustoßen. Mit 65 Millionen Klicks erreichte das Projekt rasch ein weltweites Publikum und löste eine Debatte über das ‚richtige‘ Gedenken und Respektlosigkeit im digitalen Alltag aus.

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Das Projekt, das Christoph Bareither im Rahmen eines eigenen ethnographischen Forschungsprojektes untersuchte, legt dabei einige zentrale Probleme gegenwärtigen Bildhandelns offen. Wir erleben aktuell wie digitale Bildkulturen unsere Alltage auf einer ganz elementaren Ebene verändern. Die digitale Fotographie in Verbund mit den großen Social Media-Plattformen hat völlig neue Bildpraxen hervorgebracht, die nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch den öffentlichen Diskurs, die Nachrichtenberichterstattung, nicht zuletzt unsere Geschichts- und Erinnerungskulturen mitprägt. Denn digitale Bildpraktiken, wie wir sie in den Selfies vom Holocaust-Mahnmal beobachten können, sind fundamental Emotionspraktiken, so die These des Gesprächs. Die Allverfügbarkeit digitaler Fotografien bietet dem Publikum machtvolle Möglichkeiten, sich individuell und subjektiv gegenüber Geschichte zu positionieren. Damit entstehen neue Formen der Erinnerungskultur, die weniger über gesellschaftlich kanonisiertes Wissen funktionieren, sondern vor allem über „gefühlte“ Geschichte. Die Bilder lachender, trauernder, posierender Menschen bieten das zentrale Medium für diese Individualisierung des gesellschaftlichen Diskurses, die trotz aller Komplexität auch zu „gefühlten“ Wahrheiten und „post-truth“-Phänomenen führt. Aus dieser Grundlage richtet sich der Blick schließlich auf die Praxis und die Herausforderungen für Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Wie kann die Methodologie der historischen und gegenwartsorientierten Bildforschung mit den rasanten Entwicklungen der visuellen Kulturen Schritt halten?


Themenblock 3

Bilderkrisen, Bildkritik (Theorien, Historische Rückgriffe, Reflexionen)

Typen und Wahrheitsregime des dokumentierenden Bildes (mit Matthias Bruhn)

Prof. Dr. Matthias Bruhn (Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Der historisch-kritische Rückblick auf Wahrheitsregime des Bildes ist das Thema dieser kollegialen Gespräche. Exemplarisch rekonstruiert Professor Bruhn, wie der ästhetische Blick auf Leben und Lebensräume, und die damit verbundene, respektvolle Betrachtung ihrer Epidermis, seit der Frühneuzeit zunehmend durch ein gegenläufiges, nicht nur anatomisches, sondern „tomographisches Sehen“ herausgefordert wird: dieses durchschneidet, was es präsentiert.

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Im Anschluss daran zeigt er aus zwei gänzlich verschiedenen Bereichen, nämlich dem Souvenir und der Stock-Photography, den journalistischen Bildern auf Vorrat, dass ein Bild nicht gefälscht sein muss, um nicht mehr als visuelles Zeugnis wahrgenommen werden zu können, und letztlich seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das Gespräch führt von harmlosen Souvenirs über die zu Stereotypen multiplizierten Bilder in eine Psycho-Ökonomie der Erregungs- und Beruhigungs-Bewirtschaftung, in der Bilder ihre ethisch-politische Wirksamkeit zu verlieren drohen.

(1/2) Tomographisches Sehen: das Bild als Schnitt

Bildmedien bleiben nicht nur an der Oberfläche der Dinge, sondern sie schneiden auch in diese ein, so die These. Als invasive Medien beanspruchen Bilder, das, was unter der Oberfläche verborgen ist, ans Licht zu bringen. Die durch sie vermittelten „grausamen Blicke“ begleiten gesellschaftliche Praktiken, die mit Naturbeherrschung, Eingriffen in das Leben und Überlebenskämpfen einhergehen.

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Professor Bruhn geht von jenen Schnitten durch tiefgefrorene Leichname aus, mit denen der Leipziger Militärmediziner und Anatom Wilhelm Braune 1861 die anatomische Forschung erneuerte. Von dort aus rekonstruiert er seit Andreas Vesalius, dessen anatomischer Atlas 1538-1542 erschien, eine Tradition des "tomographischen Sehens": diesem gilt das Bild nicht, wie Leone Battista Alberti 1435, als Fenster zur Welt, sondern als Schnitt durch die Welt. Sieht man diese bildepistemischen Figuren im Kontrast zueinander, so konfrontieren die einen (was der Interviewer einbringt) Blicke auf das lebendige Fleisch unter der Haut (frz. „chair“) mit solchen auf das bloßliegende Fleisch („viande“), auf das Blut als sanguis (das z.B. die Wangen rötet) und als cruor (als potentiell vergossen) – ein Gegensatzpaar, das Jean-Luc Nancy bildtheoretisch zur Diskussion gestellt hat. Parallel zum anatomischen Bild hat sich eine von Bruhn rekonstruierte Geschichte geologischer Schnitte durch das Terrain entfaltet. Der Landschaft als sinnliches Ambiente, das seit dem 16. Jahrhundert in der Landschaftsmalerei ästhetisiert wird, stellen derartige Profile die Offenlegungen der „Eingeweide“ der Erde gegenüber: Bilder für das Anthropozän. Der Blick unter die Epidermis wird bisweilen als ebenso grausam wie mutig stilisiert: die Vivisektion Claude Bernards, Pionier der chemischen Physiologie, nahm Émile Zola seit den 1870er Jahren zum Anlass, seine „Experimentalromane“ als schonungslose Einblicke in unterschiedliche Milieus zu inszenieren, während Edgar Degas, so Zimmermann, unter den Impressionisten als „grausamer Beobachter“ gefeiert wurde. In spektakulären Ausstellungen und im Film der Gegenwart werden seither maximal invasive Blicke als Wahrheitsregime gefeiert. Zugleich hat sich – von der Anatomie zur Geologie, von der Medizin zur Astrophysik – der Schnitt als Modus des verstehenden Bildes normalisiert.

(2/2) "Gran Turismo". Bilder ohne Wirklichkeit, Erinnerung an nie Erlebtes

Den Ausgang nimmt Professor Bruhn von harmlosen Reproduktionen und Artefakten, die in Museumsshops und Flughafengeschäften verkauft werden: als Souvenirs einer stumpf gewordenen Erinnerung stehen sie symptomatisch für ortlos gewordene Bilder, überall verfügbar – und ortlos selbst dann, wenn der Tourist doch an den Schauplatz reist, welcher dabei zur Kulisse (z.B. für ein Selfie) wird. Diese harmlosen Bildartikel stellt Professor Bruhn in Bezug zu einem Kommerz der Bilder, der schon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der sogenannten Stock Photography erste Höhepunkte erlebte.

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Dabei wurden Fotos, auch von aktuellen Ereignissen und Kriegshandlungen, technisch so reproduziert, als handele es sich jeweils um Originalabzüge. In Wirklichkeit jedoch wurden sie über Jahre hinweg in großer Zahl verkauft. Wie das berühmte Foto eines ölverschmierten Kormorans nach der Havarie des Tankers Exxon Valdez im Jahre 1989 verdeutlicht hat, gerieten die ursprünglich gezeigten Ereignisse durch ihre serielle Wiederholung zu Bildklischees für diffuse Ereignismuster, zu visuellen Stereotypen. Wenn das Bild aber entweder zum bildjournalistischen Blickfang oder zum Convenience-Artikel und zur Ware wird, geht sein Bezug zur konkreten Erfahrung verloren, d.h. zu Wirklichkeiten, für die ein Beobachter noch einstehen könnte. Zugleich verliert es einen zeitlich bestimmbaren Ort in der Erinnerung von Menschen, Gruppen und Gesellschaften. Oft hat man argumentiert, dass von 2003 bis 2016 Genozide in Darfur und im Südsudan nicht mehr mit Betroffenheit betrachtet wurden, weil man seit 1994 ähnliche Bilder aus Ruanda schon kannte... In der privaten wie in der öffentlichen Erinnerungskultur stellt sich der verheerende Eindruck ein, dass die Bilder den Ereignissen vorausgehen.


Kritische Bilder in Sozialen Medien (mit Kerstin Schankweiler)

Prof. Dr. Kerstin Schankweiler (Bildwissenschaft, Technische Universität Dresden) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Medienumbrüche betreffen niemals nur ein Medium, sondern stets das gesamte System der Medien, welche von den gleichen Nutzern rezipiert oder aktiv verwendet werden. Darüber hinaus entfalten Medien hohe Bindekräfte. Mit der Form der Kommunikation und ihrer Reichweite ändern sich auch soziale Formationen – vom kleinen Kreis zur globalen Gemeinschaft. In der jüngsten Geschichte wurde, wenn von der politischen Wirksamkeit Sozialer Medien die Rede war, vor allem manipulative Bilder im Kontext von Populismus, Ressentiment und Hasskampagnen verbunden. Frau Professor Schankweiler untersucht dagegen den Bildgebrauch demokratischer, zivilgesellschaftlicher Initiativen, die auch gegen Internetzensur und autoritäre oder diktatorische Kontrolle die Stimme erheben.

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Mit Blick auf jene Emotionen, die mit mutigen Bildzeugnissen verbunden sind, stellt sie die Vorstellung in Frage, nach der „Fakten“ nur von einer abgehobenen, von Teilhabe und Empathie befreiten Perspektive aus eingebracht werden können, während „Fakes“ vor allem durch den Einschlag von Affekten erklärbar wären. Unter dem Stichwort „Affektzeugenschaft“ untersucht Frau Professor Schankweiler signifikante Beispiele einer ebenso physisch eingebundenen wie sozialpsychologisch teilhabenden Bilddokumentation. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass kollektive, affektive Beteiligung unter bestimmten Bedingungen zur Glaubhaftigkeit des Bildes gehört – und deren Unterdrückung, statt Verfälschungen vorzubeugen, selbst ein „Fake“ wäre.

(1/3) Kairo 2011 – Syrien: Die Wirkung der Sozialen Medien als Utopie und Dystopie

Mit dem Durchbruch neuer Medien kommen regelmäßig sowohl Ängste und Endzeitstimmungen als auch überzogene Hoffnungen auf. Die 2011 vom Kairoer Tahrir-Platz – als Schnittpunkt und Sammlungsort subversiver Kommunikation in Sozialen Medien – ausgegangene, arabische Revolution hat dies beispielhaft verdeutlicht: sie war Ausgangspunkt für wenige hoffnungsvolle Entwicklungen, z.B. in Tunesien; zugleich nahm von hier aus der bis heute anhaltende Bürgerkrieg in Syrien seinen Anfang. Systematisch blickt Frau Professor Schankweiler auf Formen des Protests zurück – von dem, der am 25. Januar 2011 zum ersten Aufstand gegen die Mubarak-Regierung geführt hat über den syrischen Widerstand bis hin zu den Protestbewegungen im Herbst 2019 im Iran.

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Besonders interessiert sie sich derzeit für Selfie-Proteste, also Kampagnen, in denen die Teilnehmer ihre Unterstützung zivilgesellschaftlicher Anliegen durch ihr Bild bekennen. Dabei halten sie ein Poster oder verdeutlichen ihre Empörung z.B. über die Verhaftung von Journalist*innen durch Überkleben des Mundes etc. Exemplarisch verdeutlichen die Selfie-Proteste den Zusammenhang zwischen Sozialisierung im Internet und konkreten Orten der Ansammlung – neben dem Tahrir-Platz wäre der Kiewer Maidan ein paradigmatisches Beispiel. An der Schnittstelle von Internet-Aktivismus und physischer Präsenz sind auch die sogenannten „eye-sniper“ angesiedelt – staatliche Akteure der Polizeikräfte, die mit Gummigeschossen auf die Augen der Aktivist*innen zielen, und so auch auf deren Versuche antworten, die Ereignisse mit Smartphones zu filmen und diese Zeugnisse sogleich online zu stellen. Wenn Statuen ein Auge verbunden wird oder Engagierte Selfies mit verbundenen Augen online stellen, so wird der Akt physischer Verblendung sogleich durch Bilder beantwortet. An weiteren Beispielen demonstriert Frau Professor Schankweiler, dass politische Aktion (nicht nur Aktivismus) und die Zirkulation der Bilder mittlerweile zusammengehören. Die Ereignisse und die Bilder davon können also nicht mehr getrennt betrachtet werden – als kämen die Bilder stets hinterher, wie veraltete Theorien von Mimesis und Darstellung dies nahelegen.

(2/3) Typologien der Augenzeugenschaft; Zeugnis und Affekt

Zeugenschaft („Fakt“) wird vordergründig mit Objektivität verbunden, wohingegen man „Fake News“ landläufig mit einer affektgeleiteten Verfälschung der Wahrheit, oder mit Lügen verbindet, die den jeweiligen Rezipienten gefallen sollen. Doch sind auch Zeugenschaft und damit Objektivität nicht frei von Emotionen: diese reichen von Vertrauen, wie es nur durch gut beglaubigte Informationen – und Begegnungen – geschaffen werden kann über Empörung angesichts von Ungerechtigkeit oder Schikane bis hin zu Aufruhr mit Blick auf offenkundiges Unrecht. Dies bringt die Frage auf, ob der für objektive Berichterstattung notwendige Abstand nicht eher durch ein aktives Abstandnehmen, durch „detachment“ gewährleistet werden kann als durch die Illusion, den Ereignissen überhoben sein zu können.

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Vor diesem Hintergrund untersucht Frau Professor Schankweiler Formen der visuellen Berichterstattung, die von unterschiedlichen Typen der Zeugenschaft geprägt sind. Beglaubigung kann ein als Zeuge auftretender, also durchaus teilhabender Beobachter durch verschiedene Verfahren suchen: Didier Fassin unterscheidet zwischen dem Zeugen im juristischen Sinne, dem „testis“, von dem er den betroffenen Beteiligten, der sich retten konnte, den „superstes“, abhebt, und schließlich demjenigen, der sein Leben riskiert hat, dem Märtyrer. In der Zeit des Internet-Journalismus und -Aktivismus ist ein Ereignis dann besonders glaubhaft, wenn es durch zahlreiche Bilder („Bildschwärme“), zunehmend auch Filme bezeugt wird, die Anwesende von einem Ereignis ganz rasch aufnehmen und sogleich online stellen. Solche Smartphone-Aufnahmen gelten im 21. Jh. als verlässlicher selbst als Fotografien von Kriegsphotographen – selbst wenn diese sich mutig bis an die vorderste Front wagen und das Ereignis in ikonischen Darstellungen vermeintlich „hautnah“ inszenieren. Doch können auch „Bildschwärme“ – sowohl ihre Ästhetik als auch ihre Distribution im Internet – imitiert oder gar gefälscht werden. Neben der Beglaubigung durch die bloße Zahl tritt auch diejenige durch affektive Teilhabe, die den Betrachter direkt in aufwühlende Situationen versetzen. Mit etwas mehr Abstand kann schließlich Empathie bekundet werden – sowohl mit einzelnen Beteiligten, wenn diese sich in dialogischeren Formaten als in denen von unter Zeitdruck entstandenen Reportagen selbst präsentieren können, als auch mit vielen, z.B. mit einer Menge von Demonstranten, deren bloße Anzahl bereits zum Argument wird. Medienportale montieren aus unterschiedlichen Handy-Filmen kleine Sequenzen, in denen sie die Inszenierung der Menge oft weitertreiben. Als Memes können Bilder schließlich für verschiedene Anliegen derart mobilisiert bzw. vereinnahmt werden, dass sie nur noch in einem Sinn gedeutet werden. Nur, wenn er Standards wie die Trennung von Bericht und Kommentar kennt, oder mit den Normen des verantwortbaren Bildes vertraut ist, kann der Betrachter sich in den Strömen der affektiven Bilder noch orientieren.

(3/3) Psycho-Ökonomien des berichtenden Bildes

Unter Schlagworten wie „Erregungsbewirtschaftung“ wird aktuell über die Strategien diskutiert, Medienrezipienten an bestimmte Organe oder Formate statt durch die Qualität der Information durch die Bestätigung bestehender Affekthaltungen zu binden. Es geht dabei nicht nur um die Passgenauigkeit bestimmter Informationen für konkrete Interessengruppen, sondern auch um die Bestätigung eines Habitus und des damit verknüpften, kollektiven Selbstwertgefühls. Verhaltensökonomisch ist die Bestätigung von Gemeinschaftsidealen, die man zu verkörpern meint, ein wesentlicher Aspekt erfolgreicher Berichterstattung. Die Affektivität des Bildes kennzeichnet die gesamte Medienlandschaft – auch die etablierten Organe.

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In nationalpatriotischen oder rechten Formaten wird Habitus oft regelrecht zum Kern gegenaufklärerischer Argumentationen; entsprechend wird die Affektbesetzung der Bilder (und der in ihnen gezeigten Ereignisse) oft so weit getrieben, dass Glaubhaftigkeit keine Rolle mehr spielt. Doch auch Bilder des zivilgesellschaftlichen Engagements oder des Protests kommen nicht ohne Affektivität aus – und ohne den Appell an die Verantwortung derer, die objektiver Zeugenschaft und wissenschaftlicher Beglaubigung verbunden sind und bleiben. Affekte betrachtet Frau Professor Schankweiler nicht als individuelle Gefühle, sondern grundsätzlich als geteilt, als relational zwischen mehreren Subjekten sich ereignend. Vom Affekt als überindividueller Erregung unterscheidet sie konkretisierte, individuelle Emotionen wie Mitleid, Neid, Furcht und Hoffnung etc. Vor dem Hintergrund der neuen Emotionsforschung füllt sie kunsthistorische Begriffe wie den von Aby Warburg 1906 in die Diskussion eingebrachten der „Pathosformel“ mit neuem Sinn. Indem Affekte sich an Bilder (und überlieferte Motive) heften, teilen sie sich mit, konkretisieren aber zugleich ihren emotionalen Gehalt. Der Begriff verdeutlicht, dass Affektivität und Emotion mit der Rezeption von Bildern untrennbar verbunden sind. Durch die Konkretisierung des Erregungspotentials im Bild wird dieses jedoch nicht nur mitteilbar, sondern auch lesbar – und damit zum Gegenstand der kritischen Reflexion. Bilder fordern daher nicht nur zum Mitmachen auf, sie machen die mit ihnen verbundenen Emotionen auch zum Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlung, stets mit Blick auf die Gefühle der Anderen. In der Kunstgeschichte gibt es also bereits eine Tradition des Umgangs mit visuellen Affektkulturen. Dies gilt auch für die bildende Kunst, wie der Interviewer ergänzt. Sie reicht von Dada und Surrealismus über die Pop Art bis zur Videokunst der Gegenwart. In der „Affektgemeinschaft der Bilder“ (so Schankweiler), wie sie in den Sozialen Medien zirkulieren, kommt der emotionalen Kultur eine Schlüsselrolle zu. Zivilgesellschaften machen die Bereitschaft zur Akzeptanz von unterschiedlichen Deutungen und die Fähigkeit zum Umgang mit – emotionaler ebenso wie ethischer – Ambiguität zu einem Hauptanliegen. Für den Einzelnen wird die Fähigkeit zum verantwortlichen Umgang mit der Psycho-Ökonomie des Bildes zu einer wesentlichen Voraussetzung für die Beteiligung an öffentlicher Information. Eine Kultur des Sehens, die Empathie und Affekt-Modulierung miteinschließt, statt sie zu verdrängen, befähigt erst zur Akzeptanz verlässlicher Bilder, die Ereignisse glaubhaft darstellen – und dennoch unterschiedliche Emotionen wecken, vielfältige Lesarten zulassen und vielstimmige Diskussionen stimulieren. Davon geht Frau Professor Schankweiler aus und durchleuchtet die Affektivität des Bildes – auch und gerade dort, wo es zur Stärkung der Zivilgesellschaft und ihrer affektiven Kohärenz beiträgt.


Photography at war (with Matthias Bruggmann)

Matthias Bruggmann, artist-photographer (Lausanne, Switzerland), in conversation with Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Matthias Bruggmann, living in Switzerland and France, is an internationally active artistic photographer who has worked in Egypt, Iraq, Somalia, Libya and Syria. He has learned and respects the standards of documentary journalism. Working in the framework of war photography, he however questions the visual regimes of its traditional heroism. In Lausanne, in the Musée de l’Elysée, he co-curated the exhibition We Are All Photographers Now! Matthias Bruggmann comments, in his interviews as well as in his work, on the history and actuality of documentary photography, and the institutional and economic frameworks surrounding it.

(1/3) Living in a world haunted by war

Although Matthias Bruggmann works according to the standards of photo-journalism, and even though he takes considerable risks in his work, he is convinced that a type of estheticized documentation realized by adventurous photographers heroically risking their life is dead. In an era of embedded journalism and deep fakes, according to Bruggmann, a large number of photographs immediately published via social media by anonymous bystanders is more believable than the most significant, artistic snapshot. On that background, the artistic documentation of war acquires a new sense: it makes us reflect about the visual regimes by which we keep the events that happen in our neighborhood at a distance – by the very strategies of imagining them.

(2/3) Refusing to estheticize the photographic weapon

Matthias Bruggmann is sceptic about the photographic icon, the one image synthetizing the experience of war in a single, visual stereotype. He refuses to estheticize war, locating it in an apocalyptic, infernal Elsewhere. In an era of embedded journalism and deep fakes, he reflects about the visual regimes representing terror and horror in our neighborhood.

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So, he integrates also photographs taken by others – such as soldiers documenting their family life – into his oeuvre. Images documenting confrontation and the division of the world into one side and its enemies side with others conveying the disastrous disorientation of many situations in civil wars: fighters running in all directions, or killing fields where the dead corpses of both sides are dispersed on the ground. In order to subvert our sense of a well-ordered geography, subdividing the world into “our” spaces and those of the enemies, the artist draws us into these horrors of disorientation.

(3/3) Documenting war as normality

Matthias Bruggmann often focuses on provokingly banal aspects of military conflicts (showing the physical needs and habits of warriors, the recreation of soldiers besides a swimming-pool, their private life as fathers etc.). Without sharing any of their emotional or ideological impulses, the artist introduces us into the life of Bashar-al-Assad’s soldiers.

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His images are secularizing the image of war, and his esthetics is the very opposite of any romantic empathy for courage and excitement (as Peter Handke has felt it towards Serbian warriors). Instead, he invites the beholders to understand that war does not take place in hell, or in Dante’s inferno, but in concrete places, and in a shared world we are part of (and responsible for). These seemingly innocent pictures make us feel that this war is also the result from the “facebook revolution” (of Tahir pace), and thus of our media habits, our politics and our solidarity – or lack of it.


Die vermeintliche Intelligenz von Deep Fakes und der Verlust der Zeugenschaft (mit Dieter Mersch)

Prof. Dr. Dieter Mersch (Ästhetik und Theorie, Zürcher Hochschule der Künste) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Professor Dieter Mersch ist weithin als Medienphilosoph bekannt, der ein einseitig auf technische Aspekte abhebendes Medienverständnis in Frage stellt. Seit den 1940er und 50er Jahren haben frühe Computer wie Alan Turings Maschine von 1936 und Theorien der Kybernetik mit ihrer Rede von kommunikativen Kanälen, Rückkopplungsschleifen etc. uns daran gewöhnt, Maschinen Bewusstsein zuzuschreiben. Umgekehrt wurde die Kommunikation der Menschen in Medien (als „sender“ und „receiver“ betrachtet) einseitig als bedingt durch Technik betrachtet. Seit Mitte der 1980er Jahre hat der Medientheoretiker Friedrich Kittler – bald am Beispiel des Internets – die Technik der Medien auf den militärisch-industriellen Komplex zurückgeführt, wodurch auch Inhalte vorstrukturiert würden. Was bei derartig technoiden Vorstellungen ins Hintertreffen zu geraten droht, ist der Anteil des Menschen an der medialen Kommunikation, seine Zeugenschaft, und damit auch seine Verantwortung für die durch Bilder suggerierten oder simulierten Wirklichkeiten. Dieser hat Professor Mersch seit Jahrzehnten seine Aufmerksamkeit gewidmet.

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Heute begründet die Analogie von Mensch und Maschine überzogene Erwartungen an die Künstliche Intelligenz, an Maschinenschaltungen, die in Analogie zur Hirnforschung als "neuronale Netzwerke" bezeichnet werden, sowie an post- und transhumane Utopien, bei denen Menschen ihre Intelligenz nicht nur durch Computer ergänzen, sondern sie schlussendlich in Roboter auslagern. In drei Gesprächen geht Dieter Mersch nun auf die künstliche Intelligenz – und die durch sie gefälschten Bilder – ein. Darin geht es um die konkrete Kritik an vermeintlich intelligenten Bildern, um eine grundsätzlichere Kritik der algebraischen Rationalität (so der Titel seines derzeitigen Forschungsprojekts) und um den Aufweis der Gefahren, die ein einseitig auf Simulation durch KI beruhendes Bild der sozialen Verhältnisse und Konflikte mit sich bringen kann.

(1/3) Bilder als Deep Fakes: Ununterscheidbar von Intelligenz oder intelligent?

Professor Mersch setzt bei der Visual Pattern Recognition und damit auch bei Deep Fakes an. Bei Sotheby’s wurde im Oktober 2018 für mehr als 400.000 US-Dollar das Porträt eines Edmond Belamy verkauft. Es erinnert an Bildnisse des 18. Jahrhunderts, sieht jedoch zugleich so aus, als hätte ein Künstler der Avantgarden wie Francis Bacon es mit etwas aggressiven Pinselzügen verfremdet. Wie man erfuhr, lag der ganze Stammbaum einer vermeintlich historischen Famille de Belamy in Form einer gemalten Ahnengalerie vor. Als Urheber zeichnete die französische Gruppe Obvious. Es handelte sich um Deep Fakes, die ein neuronales Netzwerk von Computern erstellt hatte.

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Man hatte eine Fülle von Porträts aus der Kunstgeschichte eingespeist. Die erfolgreiche Versteigerung des signifikantesten der Resultate wurde als Beleg gedeutet, dass das computergenerierte Gemälde für das Publikum nicht als solches erkennbar war. Daraus schloss man, dass es nicht vorhersehbar, sondern überraschend – und insofern von Kunst phänotypisch nicht unterscheidbar – war. Daraus, dass das Werk von „echten“ Werken nicht mehr unterscheidbar war, wurde gefolgert, dass es auch wesentlich nicht mehr von Kunst unterschieden sei – die Computer also über Phantasie und Originalität verfügten: „Creativity isn’t just for humans“, so die „Künstler“.
Professor Mersch stellt dies infrage. Er demonstriert, dass sich die Werke bei genauerer Betrachtung durchaus als vorhersehbar, ja als Kitsch erweisen – ein zum Stereotyp verkommener Abklatsch des Künstlerischen, Klischees traditioneller Bildnisse mit avantgardistischem Einschlag. Das Beispiel lässt ihn auch daran zweifeln, dass KI überhaupt zu grundsätzlich neuen Erfahrungen verhelfen kann, ja, zur Wahrheit Zugang schaffen kann. Von dort aus befragt der Philosoph auch Deep Fakes in den Medien – wie ein Interview, in dem Obama sagt, dass er hier etwas sage, was er niemals gesagt habe.

(2/3) Können Computer Vorstellungen entwickeln und entwerfen? Kritik der künstlichen Intelligenz

Maschinen können nicht denken, nur rechnen, so die These. Sie können komplexe, syntaktische Strukturen erschließen, sind aber unfähig zur Semantik, zur Bedeutung. Ein Computer kann unvorstellbare Datenmengen registrieren und „verarbeiten“, scheinbar Wirkliches aufgrund dessen simulieren, nicht aber eine Welt wahrnehmen und entwerfen. Professor Mersch legt dar, dass eine auf algorithmische Anwendungen reduzierte Mathematik nicht mehr kreativ wäre. Auch Originalität kann man zwar den Programmierern, nicht aber den Computern zuschreiben.

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Professor Mersch geht es nicht um eine kulturelle oder politische Kritik – sei es an der Übermacht einseitig technischer, durch das Machbare verhexter Rationalität, sei es an der Mechanisierung der Arbeitswelt, sei es an der Konsumierung von Angeboten, deren affektive Wirkung im Voraus berechnet wurde. Seine strikt epistemologische Kritik greift tiefer. Sie läuft darauf hinaus, dass Maschinen – selbst wenn sie parallelgeschaltet werden und neben den Daten, die eingegeben werden, auch andere Maschinen "wahrnehmen" – sich letztlich gar nicht auf Wirklichkeit, sondern nur auf ein eindimensionales Daten-Universum beziehen. Wenn man maschinenproduzierte Daten, auch Bilder oder komplexe Simulationen, als Wirklichkeit akzeptiert, statt sie auf die mit ihnen verfolgten Intentionen zu befragen, unterliegt man insofern grundsätzlich einer Täuschung. Daher bringen falsche Erwartungen an die KI die Gefahr einer neuen Ära der Kritiklosigkeit mit sich.

(3/3) Simulierte oder analysierte soziale Welten? Sozialstatistik im Bilde Künstlicher Intelligenz

Schließlich wirft Professor Mersch einen Blick auf durch KI analysierte – oder simulierte – soziale und politische Welten. So sei längst zu beobachten, dass auf der Sammlung individueller Verhaltensmuster und auf komplexen Statistiken beruhendes Marketing nicht nur menschliches Handeln (wie Kaufentscheidungen) vorausberechne (dass also „die Maschine mich besser kennt als ich mich selbst“), sondern es zugleich auch hervorbringe. KI wäre so imstande, Verhalten nicht nur zu simulieren und zu antizipieren, sondern es zu erzeugen – und zwar im Bereich des Konsums ebenso wie in der Sozialpolitik.

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Eine von ihren Praktikern oft ganz selbstverständlich verabsolutierte, auf Statistik verengte "Empirie" bringe die Gefahr mit sich, dass Menschen dabei auf Typen reduziert werden, die der Computer aufgrund der eingegebenen Daten konstruiert hat. Wenn aber KI unser Verhalten vorstrukturiert, verfestigen wir dadurch die Typologien, die dem Computer einst eingespeist wurden, bevor dieser sie zwar vielleicht weiter ausdifferenziert, dabei aber auch verfestigt hat.
Ein auf hochgetriebene Sozialtechnologie verengtes, sozialwissenschaftlichen Wissen kann insofern erhebliche ethisch-politische Konsequenzen zeitigen. Das gilt auch für die Grundlagen des Sozialen, der Öffentlichkeit und des Politischen selbst, die im entscheidenden Maße durch Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen getragen wird. Social Media und durch KI manipulierte Pseudo-Informationen untergraben aber diese Basis. Die Digitalisierung läuft Gefahr, so Professor Mersch, dass die Utopie, die in ihren Anfängen mit ihr verbunden war, nämlich die der allseitigen Teilhabe und Demokratisierung, in ihr Gegenteil umschlägt. Der Philosoph demonstriert, dass die KI und die mit ihr zugerüsteten, wirtschaftlichen und politischen Praktiken kritisch begleitet werden müssen und können. Er ruft dazu auf, diese Kritik in vielen Bereichen zu vertiefen und sie auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Nur als Individuen, die nicht davon ausgehen, dass der Computer uns besser kennt als wir selbst, können wir unserer Verantwortung gerecht werden.


Aktuelle Bildkrisen in historisch-kritischer Betrachtung (mit Horst Bredekamp)

Prof. Dr. Horst Bredekamp (Humboldt-Universität zu Berlin) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (KU Eichstätt-Ingolstadt)

Professor Bredekamp befasst sich seit Jahrzehnten mit „Bildakten“, in denen Personen durch Bilder nicht nur dargestellt, repräsentiert, sondern bisweilen auch ersetzt werden. Mit einzigartiger Empathie spürt er der historischen Magie des Bildes nach, unterzieht sie dabei aber stets schon der Kritik. Statt die überwältigende Präsenz des Dargestellten im Bild nur zu beschwören, betrachtet er sie im Kontext der Praktiken, in denen man dem bildlich Verkörperten überhaupt erst begegnete. Es wäre also verfehlt, Bildmagie, wie er sie versteht, als okkulte Kraft zu bagatellisieren. Die Wirkungen der Bilder, auch ihre wirkmächtigen Präsenzeffekte, untersucht er mit Blick auf die historischen Praktiken und Formen ästhetischen Erlebens, die durch Bilder vermittelt werden und später auch in ihnen überliefert sind.

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In der Frühneuzeit hat man nach dem Tod eines Königs – in jenem Interregnum, bis ein neuer gekrönt wird –, den Verstorbenen bisweilen „in effigie“, d.h. in Gestalt einer Wachspuppe, weiter regieren lassen. Als im Barock die moderne Staatsraison Programm wurde, konnte die Gemeinschaft des souveränen Staats sich selbst im Bild eines überwältigenden Kollektiv-Wesens feiern, das 1651 auf dem Titelblatt von Thomas Hobbes‘ wichtigstem Buch moderner Staatstheorie, Leviathan, zu sehen war. Huldigungen, aber auch Strafen können ersatzweise am Bild vollzogen werden, ja, man konnte sich sogar in ein Bild verlieben – wenn etwa dynastische Hochzeiten durch Porträts angebahnt wurden. Derartige Beispiele, denen er umfassende Forschungen gewidmet hat, sind der Hintergrund für seine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Bildkrisen.
In jüngster Zeit wurden mit Bildern und um sie Kriege geführt. So wurde Mord visuell inszeniert – vielleicht mussten gar Menschen für Propaganda-Bilder sterben, die im Internet zirkulierten. Schrecklicher konnten wir nicht mit der Macht der Bilder konfrontiert werden. Doch auch die Denkmalstürze dieses Jahres konfrontieren uns mit einer Geschichte, die uns erst über die Macht der Bilder, aber auch den verantwortlichen Bildgebrauch aufklären kann. Im virtuellen Gespräch zu Pandemie-Zeiten schließlich erleben wir ein Extrem der Verkörperung auf dem Bildschirm, die uns zugleich von wesentlichen Dimensionen leiblicher Präsenz – und damit des Sozialen – abschneidet. Diesen drei Aspekten aktueller Bildkrisen gehen wir mit Professor Bredekamp nach.

(1/3) Bilderkriege: Mord als Bildakt

Hinrichtungen des sogenannten Islamischen Staats haben uns daran gewöhnt, dass für die Kamera gemordet wurde. Stets medial inszeniert und verbreitet, wurden mit ihnen seit Herbst 2014 auch in unserer Mitte mit Erfolg Anhänger für die brutale, terroristische Bewegung gewonnen. So wurden im Sommer 2015 syrische Gefangene im römischen Theater der antiken Stadt Palmyra von jugendlichen Kämpfern erschossen oder enthauptet. Im Januar 2017 wurden in der inzwischen schwer zerstörten, zum zweiten Mal eroberten Stadt erneut 12 Beamte, Lehrer und Freischärler konkurrierender Gruppen exekutiert. Die Opfer der grausamen Hinrichtungen wurden oft in ähnliche orangefarbenen Anzüge gekleidet, wie sie seit 2002 die islamischen Häftlinge im US-amerikanischen Gefangenenlager in Guantanamo tragen mussten. Dies sind Episoden in einem Krieg wiederkehrender Bilder, für den massenhaft Menschen ihr Leben lassen mussten.

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Doch schon seit der Renaissance wurden Menschen nicht nur in Bildern, sondern auch für und durch Bilder getötet. In visuell inszenierten – und bildlich dargestellten – Morden wurde schon zu Anfang der neuzeitlichen Bildkultur die Grenzen zwischen Fiktionalem und Realem unscharf: für ein Bild mussten Menschen sterben, und der „Mord“ an einem Bild konnte das reale Töten vorwegnehmen oder begleiten. Professor Bredekamp geht in diesem Gespräch der Frage nach, wie die Grenze zwischen Fake und Fakt sich vom Bild und dem, was es zeigt, in den Bildakt, in die Produktion und Rezeption von Bildern, verschiebt.
Der historisch-kritischen Rückblick sensibilisiert auch dafür, dass die Bilder selbst ein Potential der Selbstreflexion enthalten. Kunsthistoriker sind dazu aufgefordert, dieses freizusetzen. Denn Bilder zeigen nicht nur ihre Inhalte, sondern führen zugleich auch vor, wie der Betrachter den Bildakt vollziehen soll. So wurde das christliche Bild niemals von dem alttestamentarischen Bilderverbot freigestellt, sondern hatte sich diesem gegenüber zu rechtfertigen. Entgegen dem biblischen Gebot (2. Gebot; „Du sollst dir kein Bildnis machen…“) konnten Heilige, die Blutzeugen des Glaubens, nicht nur in ihren körperlichen Überresten, in Reliquien, sondern auch in Ikonen verehrt werden. Für die Treue der von frommen Leuten nach präzisen Regeln gemalten Bildnisse stand die Kirche ein. Auch die illusionistischen oder realistischen Werke des Barock zeigten nicht, wie es im Himmel zugeht, oder wie sich die heilsgeschichtlichen Ereignisse zugetragen hatten, sondern sie sollten, sei es als gemalte Predigten sei es als ekstatische Visionen, lediglich der Imagination der Frommen aufhelfen. Dass deren Perspektive der Vollendung durch göttliche Gnade bedurfte, inszenierten die Bilder mit.Im Gespräch wird dazu aufgefordert, die Kulturen der bildlichen Inszenierung von Macht und Religion ebenso wie jene Selbstkritik des Bildes zu erforschen, die ihm oft schon eingeschrieben ist.
Die historisch-kritische Aktualisierung des selbstkritischen Bildes vermag auch gegenwärtige Bildpraxis aufzuklären. Der Umgang mit den Ansprüchen und Legitimationen, die das Bild zugleich mit seinen Hauptinhalten hintergründig vorträgt, wäre die Voraussetzung für die Arbeit an einer dialogischen Bildkultur – auch über die Grenzen zwischen den Kulturen hinweg. Betrachtet man Bilder zudem im Rahmen der Praktiken, mit denen sie als „Bildakte“ verbunden sind, also als Knotenpunkte sozialen Handelns, so stellt sich auch ethische Fragen. Ist es zu verantworten, dass die Bildpropaganda des IS im Internet allseits zugänglich gemacht wird? Und muss man nicht umgekehrt auch Verantwortung für Bilder und Bildkulturen übernehmen? Diese Frage hat Professor Bredekamp schon vor Jahren nicht nur an den konservatorischen Umgang mit dem Kulturerbe gestellt, sondern soweit zugespitzt: muss die UN Denkmäler schützen, die von Terroristen bedroht werden? Ist es verantwortbar oder gar notwendig, das Leben von Soldaten für den Schutz von Kunstwerken zu riskieren?

(2/3) Denkmalkriege: Bildersturm und Bilderkampf

In der Black-Lives-Matter-Bewegung haben wir kurz vor der Aufzeichnung der Gespräche erlebt, dass Denkmale gestürzt, andere aufgestellt und wieder entfernt werden – so in Bristol, wo am 16.7.2020 das Werk des Künstlers Marc Quinn A Surge of Power (Jen Reid) 2020 abgebaut wurde. Die Statue einer Aktivistin war auf dem Sockel platziert worden, von dem aus bis Mitte Juni der Wohltäter der Stadt – und Sklavenhändler – Edward Colston in Bronze auf die Nachgeborenen herabgeblickt hatte. Ihn hatten zornige Bürger in einen nahegelegenen Kanal gestürzt, bevor er wieder geborgen und in ein Museumsdepot verbracht wurde. An Bildern und Monumenten können also symbolische Bestrafungen – oder auch nur Platzverweise in der Erinnerungskultur – vorgenommen werden.

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Im Extremfall haben Denkmalkriege mit Mord und Genozid zu tun. Sie können im Namen ganz unterschiedlicher Motive ausgefochten werden. Mit den zwei 30 bis 50 m hohen Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan zerstörten Taliban im März 2001 nicht nur die größten Statuen des „Erleuchteten“, zudem altehrwürdige Werke, die auf das 6. Jahrhundert zurückgingen. Bildlich verkörperten die kolossalen Bildwerke nicht nur den historischen Religionsstifter Siddharta Gautama, sondern auch jenen Buddha, der nach buddhistischem Glauben seinem historischen Auftreten schon vorausgegangen war. Die Taliban nahmen also einen symbolischen Genozid an allen Anhängern des Buddhismus vor. Darüber hinaus verhöhnten sie das auf religiöser Toleranz beruhende UNESCO-Weltkulturerbe. Ähnliches wiederholte sich im März und April 2012 in Timbuktu, der Hauptstadt Malis. Tuareg-Rebellen der Ansar Dine und AQMI verwüsteten berühmte Grabmale islamischer Gelehrter des 16. Jahrhunderts, da deren Verehrung nicht in ihr krude vereinfachendes Islam-Bild passte. Professor Bredekamp blickt in diesem Interview auf Jahrhunderte des Bilder- und Denkmalkriegs zurück, um von dort aus Perspektiven für aktuelle Auseinandersetzungen zu gewinnen.
Gegenwärtig scheint die Macht traditioneller Bildtypen sich vor allem in der Zerstörung zu erweisen. Diese lenkt den Blick darauf, dass Bilder selbst Macht über Menschen ausgeübt haben und weiter ausüben. Die berühmte Statue des Perseus als Bezwinger der Medusa, die der erste absolutistische Großherzog Cosimo I. de Medici von Toskana 1554 auf dem Hauptplatz von Florenz aufstellen ließ, zeigt, dass der Künstler Benvenuto Cellini und der Auftraggeber diese Macht selbstreflexiv mit inszeniert haben: in der Fähigkeit noch des abgeschlagenen, blutenden Hauptes der schrecklichen Medusa, das darauf blickende Staatsvolk zur Versteinerung zu bringen, zeigte sich die neue Souveränität des Künstlers ebenso wie des Herrschers. Das Beispiel steht für eine Geschichte des seine eigene Macht reflektierenden und dadurch nur noch wirkmächtiger inszenierenden Bildes. Vor diesem Hintergrund plaidiert Professor Bredekamp auch dafür, dass problematische gewordene und für Manche verletzende Denkmäler nicht weggeräumt werden, sondern als Herausforderungen an die historisch-kritische Debatte am jeweiligen Ort ihrer historischen Aufstellung erhalten bleiben.

(3/3) Bildwerdung und Entkörperung zu Pandemie-Zeiten

In Video-Konferenzen, die während der Covid-19-Krise massenhaft wirkliche Begegnungen ersetzten, sind wir nicht einmal mehr „talking heads“, sondern körperlose „talking pictures“. Was macht diese neue Etappe der Bildwerdung des Menschen mit der Kommunikation?

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Eine jahrhundertealte Kultur substituierender Bildakte hat uns antrainiert, im Bilde der jeweils repräsentierten Person zu begegnen. So verkörpern wir uns selbst auch in Selfies, die zu den Empfängern „sprechen“ – schon dies eine Bildwerdung des Menschen, die Vorheriges in den Schatten stellt. Doch niemals ist der Ersatz des Menschen durch sein Konterfei derart alltäglich geworden wie in der derzeit grassierenden Pandemie. Vor dem Hintergrund jahrhundertelanger bildlicher Verkörperungen geht Professor Bredekamp der Frage nach, was mit uns zu Zeiten des „social distancing“ und der physischen Isolierung geschieht. Dass wir uns beständig körper- und ortlos in kommunikative Medien einspeisen, betrachtet er als ein Sozialexperiment von vorher unbekannten Ausmaßen. Doch sollte die Sondersituation auch dafür genutzt werden, dass die Bildkultur, an welcher wir vielfach zu Zeiten der Gespräche nur virtuell teilnehmen, kritisch durchleuchtet und hinterfragt wird.